Kolumne - Friede, Friede! Und ist doch kein Friede!

Neulich hat mich mein amerikanischer Freund darauf angesprochen, dass er in
deutschsprachigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen immer wieder auf eine
merkwürdige Formulierung gestoßen sei, die kaum und nur ungenügend ins Englische zu
übersetzen sei – meistens mit der Bedeutung „annähernd“ oder „halbwegs“. Eine nur
oberflächliche Übersetzung, so mein Freund. In der Formulierung „im Ansatz“ sei doch eher
ein Grundgedanke oder eine wesentliche Idee, die dann im Folgenden weiter ausgeführt
wird.
Im Ansatz geht es bei den neuen Rüstungsvorhaben unserer Regierung um die Sicherung
des Friedens. Je besser gerüstet, desto größer die Abschreckung. Krieg führen können, um
Krieg nicht führen zu müssen. Das klingt logisch, die Erfahrung zeigt allerdings, dass das
Pulver auch gerne verschossen werden will.
„Friede, Friede! Und ist doch kein Friede“. Diese Bemerkung des Propheten Jesaja
erinnert daran, dass Friede mehr ist als die Abwesenheit von Gewalt. Er fordert auf zu einer
tieferen Ursachenforschung von Unfrieden. Und er weist darauf hin, dass Frieden erst dann
herrscht, wenn „im Ansatz“ eine entsprechende innere Haltung da ist. In biblischer Sprache
würde das vielleicht „Einstellung des Herzens“ oder „Umkehr“ heißen und sich auf jede
Form des Zusammenlebens beziehen.
Die Bibel weiß allerdings auch, dass Friede unter den nun einmal gegebenen Bedingungen
menschlichen Zusammenlebens nicht dauerhaft zu verwirklichen ist, weil der Mensch ist,
wie er ist. Friede bedeutet deshalb keinen Zustand, den man ein für alle mal erreichen
kann. Vielmehr ist Friede ein notwendiger und andauernder Prozess. Sozialpsychologisch
gesehen würde man vielleicht davon sprechen, dass Friede die menschliche Sehnsucht ist,
angstfrei (miteinander) leben zu können. Eine Sehnsucht, die aber nur für eine kurze Zeit
erfüllt werden kann. In Europa hat der Friede fast achtzig Jahre gehalten. Dafür können wir
nur dankbar sein.
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 22. Februar 2023 sprechen wir von einer
„Zeitenwende“. Gleichzeitig hat sich eine „Zeitenwende“ auch im Hinblick auf die innere
Einstellung zu Krieg und Frieden vollzogen. Wurde bis vor kurzem in der Öffentlichkeit über
Wehrfähigkeit oder Kriegstüchtigkeit eher zurückhaltend und verdeckt gesprochen, gibt es
jetzt geradezu täglich Appelle, den Dienst der Soldaten und Soldatinnen für die
Verteidigung unserer freiheitlichen, rechtsstaatlichen Demokratie deutlicher und öffentlicher
wertzuschätzen. Die öffentliche Sprache ist dabei, sich zu ändern. Ein Zeichen dafür, dass
sich die innere Einstellung im Hinblick auf „Wehrfähigkeit“ und Krieg geändert hat. Wer
früher einmal „friedensbewegt“ war und „Frieden schaffen ohne Waffen gerufen hat, muss
sich jetzt dafür rechtfertigen und seine Einstellung hoffentlich revidieren. Ich bin selbst so
jemand.
Einige Genossen haben jetzt ein „Manifest“ veröffentlicht, das im Kern zu mehr
diplomatischer Aktivität aufruft. Nun gehört es zur guten Tradition der SPD kontroverse
Meinungen und öffentliche Debatten nicht etwa zu unterdrücken, sondern willkommen zu
heißen. Aber jetzt fragen sich viele Genossinnen und Genossen, ob das „Manifest“ darüber
hinausgeht und die Regierungslinie grundsätzlich in Frage stellt und damit die Position der
SPD innerhalb der Regierungskoalition schwächt. Es gibt eine lange Tradition in der SPD,
sich selbst ein Bein zu stellen. Ich selbst finde, man sollte das „Manifest“ nicht zu hoch
hängen. Aber auch nicht zu tief. Es nimmt eine zentrale Fragestellung auf, und das ist gut
so.
In den letzten Tagen hat Israel begonnen, den Iran anzugreifen. Ziel sind die Atom- und
Raketenanlagen. Israel wird seit langer Zeit vom Iran bedroht. So wie keine andere
Regierung im Nahen und Mittleren Osten fordert der Iran die vollständige Vernichtung
Israels. Der Iran ist für Israel existenzbedrohlich, und eine Antwort auf diese Bedrohung ist
für Israels überlebens wichtig.
Es gibt einen Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Hamas in Gaza und auch gegen
die Hisbollah in Syrien. Israel will die terroristischen Hamas ein für alle Mal vernichten. Die
Hamas hat nicht nur auf brutale Weise israelische Zivilisten als Geiseln genommen,
sondern auch ihr eigenes Volk. Israels Kampf gegen die Hamas ist aber seit langem schon
unverhältnismäßig geworden. Zurecht wird Israel vorgeworfen, nicht nur gegen die
terroristische Hamas, sondern gegen die gesamte Zivilbevölkerung in Gaza Krieg zu
führen. Humanitäre Hilfe zu verhindern und Hunger als Waffe einzusetzen ist ein
himmelschreiender Bruch des Völkerrechts.
Durch Kampfhandlungen allein wird Israel keinen Frieden finden. Ebenso wenig durch
gesetzwidrige Landnahme. Die Idee, die Palästinenser aus ihrem eigenen Land zu
vertreiben und eine für den Tourismus attraktive neue Mittelmeer-Riviera zu schaffen ist
zynisch und menschenverachtend.
Ist vor diesem Hintergrund die Verteidigung Israels als deutsche „Staatsräson“ noch länger
aufrecht zu erhalten? Ja, solange es tatsächlich genau darum geht. Die Regierung
Netanyahu auf Gedeih und Verderb zu unterstützen gehört nicht zur deutschen
Staatsräson. Differenzierung ist angesagt!
Frieden ist nicht nur die Abwesenheit von Krieg, Frieden ist ganzheitlich zu verstehen.
Frieden umfasst den Schutz vor Gewalt, die Sicherung der Freiheit, die Förderung
weltweiter sozialer Gerechtigkeit und die Anerkennung kultureller Verschiedenheit. Wer
Frieden will, muss ihn vorbereiten. Die Schaffung einer gewaltfreien globalen Friedens- und
Rechtsordnung und die gewaltfreie Konfliktbearbeitung stehen dabei im Vordergrund. Es
geht um das Denken vom Frieden her. Es geht um diesen „Ansatz“. Gerade in Zeiten von
Krieg und Gewalt.
Im sozial- und psychotherapeutischen Kontext gilt der Grundsatz, dass ich erst dann
professionell sein kann, wenn ich den anderen Menschen wirklich sehe – das heißt in
seinen Lebensumständen. Und mir vorstellen kann, ihn auch körperlich zu berühren,
zumindest seine Hand. Und dass ich mich selbst vom anderen emotional anrühren lasse.
Im Inneren meines Herzens.
In der biblischen „Bergpredigt“ findet sich der Ausspruch:“ Liebt eure Feinde!“ Eine auch für
nicht besonders religiöse Menschen eine ethisch-moralische Herausforderung. Aus dem
Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt auszubrechen und dadurch eine neue Realität zu
schaffen. Der andere kann nicht länger mein Feind sein, wenn ich in der Lage bin, mich in
ihn hineinzuversetzen und anzuerkennen, dass er Mensch ist, wie ich es selbst auch (nur)
bin.
Der andere kann nicht länger nur mein Feind sein, wenn ich mir klar mache, dass auf
beiden Seiten der Front Mütter um ihre gefallenen Söhne, Frauen um ihre gefallenen
Männer und Kinder um ihre gefallenen Väter weinen. Im Umkehrschluss heißt das: Der
andere kann nur bekämpft und vernichtet werden, wenn ich ihn nicht mehr als Mensch
betrachten, sondern nur noch als meinen Feind. Erst wenn ich ihn entmenschlicht und zum
Objekt oder zur Nummer gemacht habe, erst wenn er mich als Mitmensch nicht mehr
anrühren kann, kann ich ihn „neutralisieren“.
Der Anspruch, seine Feinde zu lieben und für seine Verfolger zu beten, wie es in der
Bergpredigt heißt geht über den Toleranzgedanken hinaus. Es geht um einen „inneren
Rollentausch“ mit dem anderen, wodurch Versöhnung möglich wird.
In der biblischen „Josephsgeschichte“, die von Thomas Mann aufgenommen und zu einem
seiner bekannten Bücher wurde, geht es darum, dass einer der Brüder vor allen anderen
bevorzugt geliebt und behandelt wird. Ein gegenüber den anderen „Auserwählter“. Eine für
die andere kaum zu ertragende tägliche Kränkung, die schließlich dazu führt, dass sie ihn
in einen ausgetrockneten Brunnen in der Wüste zurücklassen. Eher zufällig wird er dadurch
gerettet, dass seine Brüder ihn an eine durchziehende Karawane als Sklaven verkaufen.
Erst als sie ihn nicht mehr als „Bruder“ ansehen müssen, sondern als „Sklaven“ sind sie zu
diesem „Deal“ in der Lage. Die Geschichte endet überraschend versöhnlich, weil der
beinahe Ermordete und tatsächlich als Sklave verkaufte Bruder in der Lage ist, seinen
gewaltbereiten und gewalttätigen Brüdern zu verzeihen. Wie konnte das geschehen?
Wahrscheinlich dadurch, dass seine Sehnsucht nach seinen Brüdern und seine Liebe zu
sein Brüdern größer gewesen sein muss, als das Bedürfnis nach Rache.
Noch einmal: es geht um den „Ansatz“. Tatsächlich geht es um uns als Menschen. Um
unser Menschsein. Und um unsere (Mit)menschlichkeit. Am Ende die Frage: Werden wir
noch Krieg führen können, wenn wir in dem anderen nicht mehr den Feind sehen, der uns
bedroht, kränkt, unterdrückt und töten will, sondern einen Mitmenschen? Im Ansatz geht es
um eine „Gedanken- und Gefühlswende“ und um eine andere, eine „Dritte Dimension“ mit
hineinnimmt, durch die wir in der Lage sind, uns selbst in Beziehung zum Anderen mit
einem neuen Blick zu sehen. Man könnte den Terminus Gott als eine solche „dritte
Dimension“ einführen. Man kann dies aber auch als einen besonderen Beitrag unserer
gewachsenen westlichen Kultur betrachten, die uns hoffentlich daran hindert, in die
Barbarei zurückzufallen.
Kurt Jürgen Schmidt
