Neulich hat mich meine Frau zur Geburtstagsfeier ihrer Freundin mitgenommen. Ich sag nicht: mitgeschleppt. Alles sehr nett. Wie immer. Leckeres Essen. Kuchenrezepte austauschen. Danke für die guten Ratschläge was die Kinder angeht . Aber man weiß: Es wird sich nichts ändern. Ist eben so. 

 

Links von mir ein ausgesprochen sympathischer, dynamischer und erfolgreicher Jungunternehmer. Er baut Fahrräder zusammen und verkauft sie. Nicht so wie die Fahrräder aus meiner Jugend: Fichtel & Sachs Torpedo Dreigang. Eher Mercedes Klasse. Fahrräder (darf man den Begriff Fahrrad hier überhaupt noch benutzen?) ab zweitausend Euro. Obergrenze? Im Prinzip keine. Bei Interesse an einem erstklassigen Produkt gibt es eine ausführliche individuelle Kundenberatung. Die kann schon mal eine oder mehr Stunden dauern. Alles ist individuell zusammengebaut. Einmalig.

 

Das Fahrrad wird zu Hause dann meistens nicht wie üblich einfach oder doppelt abgeschlossen. Vielmehr wird es oft mit in die Wohnung genommen. Sicherheitshalber. Manche hängen ihr kostbares Stück sogar an die Wand.  Wie andere ein teures Gemälde. Zum Vorzeigen, wenn mal Besuch kommt.  So ein teures Teil kann man natürlich nicht einfach im Alltag benutzen.  Zum Einkaufen benutzt man ein normales Fahrrad. Fürs Sportliche dann eher das Mountainbike. Und für die Fahrradtouren mit der Familie noch ein anderes Modell, das speziell eingerichtet ist fürs Langsamfahren. Ich bin beeindruckt. Frage viel nach. Erfahre Unglaubliches. Zum Beispiel, dass nicht nur Betuchte solche „Mercedesmodelle“ kaufen, sondern auch Menschen, die dafür zwei Jahre sparen oder sich dafür verschulden.

 

Rechts von mir ein anderer Geburtstagsgast. In meinem Alter. Rentner. Unternehmer.  Altunternehmer. Keiner von den Superreichen. Er spricht vom Unternehmertum wie andere von der Kirche. Eine heilige Kuh. Die aber nicht von alleine Milch gibt. Gute Worte sind da nicht genug. Leistung ist gefragt. Die paar Wochenstunden Arbeit als abhängig Beschäftigter reichen da nicht, sagt er. Unternehmerischer Geist ist gefragt! Streiken für mehr Geld oder eine bessere Life-work-balance? Ja, Menschenskind, das Geld muss doch erstmal erwirtschaftet werden, bevor es verteilt werden kann! 

 

Wieder höre ich lange und interessiert zu. Bin beeindruckt. Ich sage: Hat doch auch Vorteile, sein eigener Unternehmer zu sein – oder? Er: Aber das unternehmerische Risiko! Ich sage: Weniger als einhundert Familien in Deutschland gehört mehr als die Hälfte des privaten Vermögens. Und ich sage: Reichensteuer. Er sagt: Sozialneid! Die Armen profitieren doch von den Reichen. Erfolgreiches Unternehmertun finanziert Millionen ärmere Menschen! Ich sage: Wir brauchen keine Almosen von den Reichen, sondern Steuergerechtigkeit. Er sagt: Die Steuern müssen gesenkt werden. Ich sage: Soziale Marktwirtschaft. Er sagt: Freie Marktwirtschaft  Ich sage: Verteilungsgerechtigkeit. Er sagt: Subventions- und Verteilungsmechanismen abbauen! Bürokratie abbauen! Den Regulierungsterror aus Brüssel abschaffen! Die deutsche Wirtschaft steht am Abgrund! Und was macht diese Regierung? Erhöht das Bürgergeld! Ich sage: Grundsicherung des Existenzminimums. Er sagt: Das ist Sozialismus! Ich sage: Ich bin Sozialdemokrat. Er: Dann sind Sie mein Feind!

 

Meine Frau hat mir inzwischen eindeutige Blicke zugeworfen. Aufhören! Es ist Geburtstag! Ich sage zu meinem rechten Nachbarn: Wir sollten unseren Schlagabtausch  beenden. Er ist verwirrt. Seine Frau sagt zu ihm: Komm, wir gehen jetzt! Er zu mir: Danke für die interessante Diskussion! Ich sage: Jau. Mein linker Nachbar versucht noch einmal zu vermitteln: Ich habe auch Kunden in ihrem Alter. Ich könnte ihnen beiden ganz individuelle Fahrräder zusammenbauen… 

 

 

Kurt Jürgen Schmidt